Plädoyer für einen aufgeklärten Realismus

Aufforderung zur Zusammenarbeit von aufgeklärten Atheisten und aufgeklärten Christen

Ich nehme die aktuelle Lektüre der Bemerkungen von Marc Tribelhorn in der Neuen Zürcher Zeitung (nzz.ch, Digital) vom 3. Dezember 2022 zum Anlass, für einen aufgeklärten Realismus zu plädieren und Atheisten wie Christen zur Zusammenarbeit aufzufordern: Kehren Sie zu einem aufklärenden Denken zurück und handeln Sie im Sinne des Programmes der Aufklärung!

Aufklärendes Denken, nicht abgebrochen oder verschüttet, sondern konsequent zu Ende gedacht und handlungsrelevant umgesetzt – im Sinne von Hannah Arendt – öffnet Wege, um ideologische Irr- und Holzwege zu erkennen und realistische Problemlösungen in und für Gesellschaft und Wissenschaft zu finden und zu fördern.

Marc Tribelhorn stellt in seinem Text „Apocalypse now? oder: Die neue Angst vor der Zukunft“ fest, dass das heute vorherrschende „Gefühl“ der Menschen darin besteht, „dass wir in in zunehmend finsteren Zeiten leben. Doch Pessimismus ist keine Lösung“.

Weder gefühlter Pessimismus noch naiver Optimismus lösen die anstehenden Probleme in Gesellschaft und Wissenschaft. Daher fordert Tribelhorn zu Recht (in Rückgriff auf den Soziologen Reckwitz), „eine institutionelle Widerstandsfähigkeit aufzubauen“. Dies ist „ein Realismus in unsicheren Zeiten“. Und er zieht die Konsequenz: „Es kann in der Politik nicht nur darum gehen, mögliches Unheil zu verhindern, Risiken zu minimieren und Krisen auszuhalten. Liberale Gesellschaften brauchen Innovation und Wagnis, um vorwärtszukommen“.

Ich ersetze den Begriff „liberal“ durch „demokratisch“, denn Freiheit und geregelte Mitbestimmung gehören zusammen. Vor allem aber bedarf es der präzisen Analyse des „Fortschritts“ in Gesellschaft, Alltag und Wissenschaft. Diese Analyse schließt die Wirkung von Ideologien ein, die den jeweiligen Pessimismus oder Optimismus belegen sollen. Ich verweise auf drei ideologische Konstruktionen:

(1) Die folgenschwere Verwechslung von historischem Fortschritt – im Sinne der Geschichte der Menschheit – mit der biologischen Evolution. Diese Verwechslung führt oft zur Ideologie des Naturalismus und zu einer atheistischen Weltanschauung.

(2) Die Behauptung des Konstruktivismus, das Vorläufige sei das Endgültige – und alle Lösungen seien grundsätzlich relativ.

(3) Das menschliche Bewusstsein werde – früher oder später – durch künstliche Intelligenz (KI/AI) abgelöst; ideologisch vereinfacht durch (menschenähnliche) Roboter/Kobolde dargestellt.

Diesen ideologischen Vorstellungen gegenüber erkenne ich, dass sich das Bewusstsein der Menschen und der Menschheit am Ende des Anthropozän für vielfältige Wahrnehmung und Erfahrung öffnet und diese „Denkleistungen“, diese Erkenntnisse in jeweiligen Sprachen „verarbeitet“ und „ausdrückt“: in Bildern und Berichten, in Prognosen und Gesetzen, in Normen, aber auch Utopien, wie in Erzählungen.

Das menschliche Bewusstsein ist also vielfach strukturiert, lässt sich aber nicht auf Hautfarbe, Volkszugehörigkeit, Religion oder Besitz (sog. Eigentum) fixieren bzw. reduzieren. Zur Würde des Menschen gehört, dass sie für alle Menschen gilt. Programm und Projekt der Aufklärung sind ihrem Grund und Anspruch nach universal.

Die Geschichte des homo sapiens ist keine Naturgeschichte, sondern eine Bewusstseinsgeschichte: die Geschichte der Kulturbildung und des Kulturuntergangs, der Normenbildung und der Normenkritik, der Versklavung und Befreiung, der Entfremdung und der Aufklärung.

Die Geschichte der Befreiung ist nicht – im biologischen Sinn – evolutiv, sondern eine Geschichte der Wechselwirkung von Gleichheit und Knechtschaft, von Krieg und Frieden, von Hass und Diskriminierung bei beanspruchter Empathie.

Was bedeuten in diesem Kontext Gerechtigkeit, Freiheit, Gleichheit und Demokratie? Ziel der Menschengeschichte (des homo sapiens als homo praestans) ist nicht das Paradies, weder im Himmel, noch auf Erden (auch nicht die „klassenlose“ Gesellschaft), sondern die Durchsetzung von Freiheit, Gerechtigkeit und Demokratie. Grundlegende Imperative für diese durchzusetzende Praxis sind: Mündigkeit, Würde und Empathie.

Zur Zeit (Ende des Jahres 2022) leben ca. 8 Milliarden Menschen auf der Erde. Für das Jahr 2080 wird die Zahl der Menschen auf 10,4 Milliarden geschätzt. Von den 8 Milliarden Menschen leben zur Zeit nur 30% in demokratischen Staaten.

Für uns heutige Menschen bleibt – meiner Überzeugung nach – als Denk- und Arbeitsgrundlage nur das Programm des aufgeklärten Realismus unter dem dreifachen kategorialen Imperativ: Mündigkeit, Würde, Empathie.

Angesichts dieser Situation erkenne ich für alle Menschen in allen Lebensräumen – vom Geburtsort (1), Wohnort (2), von Region (3) und Staat (4), bis zur bewohnbaren Erde (5) – und dem unbewohnbaren Weltall – 24 Lebens- und Entwicklungschancen, die durchgesetzt werden müssen:

(1) 1. Menschenwürde
2. Überleben
3. Sympahtie, Empathie, Respekt
(2) 4.Ernährung
5. Gesundheit
6. Schutz vor Gefahren der Natur/der Gesellshcaften
7. Lernen, aktiv/passiv
8. Kommunikation, u.a. schreiben/lesen
9. Sozialbewusstsein
(3) 10. Selbständigkeit
11. Arbeitsfähigkeit/Qualifikation
(4) 12. Mündigkeit: Familienbildung/Autonomie
13. Beruf
14. Produktion: Wertschätzung und Mitbestimmung
15. Zivilisation/Sozialverhalten
16.Kultur/Bildung
17. Freizeitgestaltung
18. Verantwortung/Politisches Handeln/Engagement
19. Machtkontrolle/Demokratisierung/Wahlen
20. Kompromissfähigkeit
(5) 21. Gerechte Verteilung der produzierten Güter/Waren/Werte/Steuergerechtigkeit
22. Rechtsordnung
23. Reisefreiheit
24. Doppelter Naturschutz: Schutz vor Naturgefahren/Schutz der Natur (kurzfristig/langfristig)

Die konkrete Utopie der Erlösung als „Entäußerung“ (Kenosis)

Im Bedenken und Übersetzen (als Versuch) eines urchristlichen Hymnus, den Paulus, der sich wahrscheinlich in Rom im Gefängnis befindet (um das Jahr 59/60 n.Ch.) und der sich als Sklave des Christus Jesus bezeichnet, in seinem Brief an seine Freunde in Philippi (Makedonien), die er als die Heiligen des Christus Jesus kennzeichnet, zitiert (Phil 2, 5-11):

Dies sinnt bei euch, was auch in Christos Jesus, der, als er in Gestalt Gottes war, nicht für Raub hielt das Sein gleich Gott, sondern sich selbst entäußerte, Gestalt eines Sklaven annehmend, in Gleichheit von Menschen geworden; und im Äußeren erfunden wie ein Mensch, demütigte er sich selbst, geworden gehorsam bis zum Tod, zum Tod aber (des) Kreuzes. Deshalb auch erhöhte ihn Gott und schenkte ihm den Namen, der über jedem Namen (ist), damit im Namen von Jesus jedes Knie sich beuge, (der) Himmlischen und Irdischen und Unterirdischen, und jede Zunge bekenne: Herr (ist) Jesus Christos zur Herrlichkeit Gottes (des) Vaters.“

(Studienübersetzung Münchener Neues Testament, Düsseldorf 1998, 5.A.)

Übersetzung des Urtextes (Koine-Griechisch) ins Deutsche 2007; Zürcher Bibel:

Niedrigkeit und Erhöhung Christi
Seid so gesinnt, wie es eurem Stand in Christus Jesus entspricht:
Er, der doch von göttlichem Wesen war,
hielt nicht, wie an einer Beute daran fest,
Gott gleich zu sein,
sondern gab es preis
und nahm auf sich das Dasein eines Sklaven,
wurde den Menschen ähnlich,
in seiner Erscheinung wie ein Mensch.
Er erniedrigte sich
und wurde gehorsam bis zum Tod,
bis zum Tod am Kreuz.
Deshalb hat Gott ihn auch über alles erhöht
und ihm den Namen verliehen,
der über allen Namen ist,
damit im Namen Jesu
sich beuge jedes Knie,
all derer, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind,
und jede Zunge bekenne,
dass Jesus Christus der Herr ist,
zur Ehre Gottes, des Vaters.

Wer war Paulus von Tarsus (Kilikien; heute südl. Türkei)?

P. war, soweit wir heute wissen, ein griechisch gebildeter jüdischer Gelehrter, wie (damals üblich) auch ein ausgebildeter Zeltmacher, Anhänger des messianischen Judentums seiner Zeit, Römischer Bürger, Kenner der hellenistischen Philosophie seiner Zeit, Bekenner des Messias Jesus aus Nazaret, Botschafter und erster Theologe des Urchristentums, das sich „weltweit“ (also im Römischen Reich) entwickelte.

In diesem Hymnus wird auf sehr spezielle und konkrete Weise die „Menschwerdung Gottes“ im und durch den „Messias Jesus“ aus Nazaret verkündet, natürlich unter den Erfahrungen und Bedingungen eines theozentrischen (wie auch durch das römische Reich geprägten) Weltbildes.

Mein Problem und meine Frage ist: wie kann die Botschaft des Paulus, und insbesondere der von ihm zitierte „Hymnus“ sinnvoll unter den Bedingungen der anthropozentrischen Welterfahrung und den bewährten Methoden moderner Problemlösung („als wenn es Gott nicht gäbe“), also im „Zeitalter der Aufklärung und Wissenschaft“ übersetzt und verstanden werden?

Ich setze voraus (was ich anderswo erläutert habe), dass unter den Bedingungen der Aufklärung (Kritik jeder Metaphysik, Religionskritik, Sprachkritik) „Erlösung“ der Welt (als Grenzerfahrung allen vorläufigen Problemlösens) denkbar und erfahrbar, aber nicht begreifbar ist. „Erlösung“ ist daher nur als „Utopie“ beschreibbar.

Ich übersetze den von Paulus zitierten „Kenosis-Hymnus“ in ein heutiges Sprachspiel. Unsere Sprachen kennen nicht nur „logische“ Sprachspiele, die widerspruchsfrei und begreifbar sind, sondern auch Sprachspiele, die die Struktur von „Oxymora“ haben und auf spezielle Weise erfahrbar sind (auch dies habe ich anderswo erläutert).

Ein erster Versuch:

Erlösung als konkrete Utopie

Ein konkreter Mensch
prophezeit das Ende der Zeit (als kairos nicht chronos),
nicht als mächtiger Herrscher (König oder Kaiser oder Führer),
der das Paradies auf Erden verspricht;
sondern als hingerichteter Verbrecher (in der Sicht und Macht der Mächtigen)
Vertrauen erwartet (ohne es erzwingen zu können oder wollen).

Wer dem Gekreuzigten als „Messias“ vertraut (pistis),
der kann befreit und ohne Zwänge denken und handeln,
der muss sich nicht den herrschenden Gesetzen der Macht anpassen,
sondern kann und muss prüfen, was gut und gerecht ist.

In diesem Sinn ist er befreit und bereit,
Gerechtigkeit, Gleichheit und Geschwisterlichkeit zu realisieren.
Selbst der Tod hat keine Macht mehr über ihn,
obwohl er als Naturwesen sterblich bleibt.

Zum Verhältnis von Macht und Gewalt, Gebrauch und Missbrauch

Unkontrollierte Macht schlägt in Gewalt um. Gewalt realisiert sich in Zerstörung und Selbstzerstörung; in Hass und Vernichtung. Der Gebrauch der Macht kann in Missbrauch umschlagen; das ist der Preis der Freiheit.

Menschen sind Vernunft- und Naturwesen. Sie sind, wie Hannah Arendt sagt: sterbliche Schöpfer.

Sie können ihre Macht gebrauchen und missbrauchen. Sie allein sind verantwortlich für Verbrechen, aber auch für die Durchsetzung der Menschenwürde und Menschenrechte und die Gestaltung gerechter gesellschaftlicher Verhältnisse.

Menschen (als Vernunftwesen) haben die dauernde Verpflichtung und Aufgabe, Menschenwürde für alle und Pflege der Natur durchzusetzen. Als Vernunftwesen sind sie in der Lage und dafür verantwortlich, gerechte Lebensverhältnisse zu realisieren und Missbrauch zu verhindern bzw. einzugrenzen. Menschen sind daher dazu bestimmt (im Sinne der Selbstbestimmung), Probleme zu erkennen und zu lösen; Erlösung ist eine (notwendige) Utopie.

Ein zweiter Versuch:

Jesus Christus Erlöser (Erlösung gedacht in einer und durch eine konkrete Person), diese Botschaft (in Form einer konkreten Utopie) setzt auf Vertrauen; und dieses Vertrauen (pistis) verheißt zeitloses Leben (im Sinne des kairos). Diese konkrete Hoffnung wird existenziell erfahren und ermöglicht, Probleme in der Dynamik des Vorläufigen zu lösen.

Zwar bleiben alle Lösungswege und Ergebnisse bzw. Entscheidungen an Endlichkeit und Irrtum des menschlichen Daseins gebunden, aber in der „Nachfolge Christi“ sind sie weder Zufall noch Schicksal, das in Vernichtung oder Auflösung endet, sondern ermöglichen Korrektur und Umkehr.

Zwar wird die Differenz zwischen Erfahrung der Umkehr oder Korrektur (metanoia) und Erkenntnis des Begriffenen nicht aufgehoben, aber für die Zeit des irdischen Lebens im Lichte der Zusage des ewigen Lebens relativiert.

„Ewiges Leben“ (ein Oxymoron höchster Stufe) ist als Synonym für „Erlösung“ das entscheidende Sprachspiel eines „Christen“; es beschreibt die existenzielle Erfahrung der Zusage der Erlösung (als eines Geschenkes, das weder erkauft noch erzwungen werden kann). Die Macht dieser Zusage gegenüber den Bedingungen begenzten Lebens (als Naturwesen) kann weder aufgehoben, noch kann diese konkrete Utopie in menschlicher Sprache „begriffen“ werden. Aber dieses „Geschenk“ wurde und wird in einer radikalen Form sprachlich beschrieben, die alle theologischen Vorstellungen „sprengt“: Gott ist Liebe (theòs agápe estín).

Im ersten Johannesbrief wird der Gottesbegriff (im Lichte der Messias-Botschaft) entziffert, und die Gottesvorstellungen des theozentrischen Weltbildes werden so radikal zerlegt, dass diese Aussage auch für uns heutige Menschen verstehbar und bedeutsam sein kann: „Gott“ ist ein synsemantischer Ausdruck für konsequente Menschenliebe. So zumindest übersetze ich das Sprachspiel der „johanneischen Schule“.

p.s.

Diese Reflexion bleibt grenzwertig, da ich nicht ausreichend geklärt habe, wie das Verhältnis von begreifenden Sprachspielen und Sprachspielen, die existenzielle Erfahrungen beschreiben, sinnvoll zu klären ist. Aber dieses spezifische Verhältnis versuche ich in der „Formel“ von der Dynamik des Vorläufigen auszusprechen.

Zusammenfassende Übersetzung:

Erlösung in der Dynamik des Vorläufigen

„Jesus Christus Erlöser“ –
diese Botschaft setzt auf Vertrauen
und verheißt zeitloses Leben.

In der Dynamik des Vorläufigen
können Probleme gelöst werden;
gebunden an Irrtum und Endlichkeit.

In der Nachfolge Christi
herrscht weder Zufall noch Schicksal;
sondern Korrektur und Umkehr sind möglich.

Ewiges Leben steht für Erlösung;
Ein Geschenk, das alle frommen Vorstellungen sprengt:
Gott ist Liebe.