Inkonsequente Perversion

Spontane Anmerkung zum Adorno-Denkmal
auf dem Theodor-W.-Adorno-Platz in Frankfurt am Main

Ich weiß, es gibt keinen Zufall. Aber der Frankfurt-Tourismus macht das Unwahrscheinliche möglich: Bei der Wikipedia-Lektüre im Internet – ich bereitete unter dem Stichwort: neue Altstadt Frankfurt einen vorösterlichen Besuch vor – fand ich einen Hinweis auf das Adorno-Denkmal von Vadim Zaktarov, seit 2003 auf dem Theodor-W.-Adorno-Platz in Frankfurt am Main aufgestellt.

Da ich seit längerem nicht mehr in der Krönungsstadt der deutschen Kaiser und des Bankenkapitals war, wußte ich nichts von diesem Glaskubus, „frei zugänglich und immer geöffnet“, wie die Touristen-Information behauptet; gerne – und unreflektiert – würde ich mich an Adornos Schreibtisch setzen und den stupiden Takt seines Metronoms auslösen.

Aber nein, mir gingen beim Anschauen der Fotografie andere Phantasien perverser Art durch meinen Kopf:

(1) Perversion eins: Hätte nicht auch Adorno gleich Lenin oder Pater Pio einbalsamiert werden können und, an seinem Schreibtisch sitzend, für die Ewigkeit ausgestellt?

Ich gebe zu, diese perverse Phantasie übersteigt seine von mir unterstellte Eitelkeit und widerspricht meinem Wissen und meiner Sympathie für die negative Dialektik einerseits, und seinen hochaktuellen „Reflexionen aus dem beschädigten Leben“ andererseits; Reflexionen, in denen sich der Begriff Erlösung – um der Erkenntnis willen – nicht vermeiden lässt.

(2) Perversion zwei: Ich stelle mir vor, mein Schreibtisch in meinem Arbeitszimmer in M. wäre öffentlich zur Schau gestellt. Der Berliner Zeichner Matthias Beckmann hat ihn in meinem „überfüllten“ Zimmer gezeichnet und mein Chaos dokumentiert. Abgesehen davon, ob es überhaupt möglich wäre, diese Unordnung – so die äußere Wahrnehmung – post mortem nachzukonstruieren, B. hätte gegen diese Perversion ihr Veto eingelegt; denn diese Zur-Schau-stellung hätte die Vergeblichkeit ihrer Mahnung, endlich einmal aufzuräumen und Ordnung zu schaffen, „in Ewigkeit“ dokumentiert.

(3) Perversion drei: Meiner Überzeugung nach ist die einzig sachgemäße Lösung eines Denk-mals für einen toten Philosophen und Musiktheoretiker: ein leerer Glaskubus; mit der Unterschrift versehen: Über die Vergeblichkeit, die Dialektik von kairos und chronos aufzuheben.

Dann wären alle geehrt, die mit Leidenschaft nachdenken. Aber ich vermute, nicht nur die Berufsphilosophen würden dieses Artefaktum ebenfalls als inkonsequente Perversion verdammen.

Die Heimsuchung des Zeichners Matthias Beckmann

Als Mensch, der sich berufsmäßig mit Theorie und Praxis von Lernumgebungen beschäftigt hat, weiß ich um die Bedeutung einer sachgemäßen wie unterstützenden Umgebung für erfolgreiche Lernprozesse. Aber neben der stimulierenden Wirkung kenne ich auch die inszenierte Wirkung eines Kopfarbeiters in seinem Arbeitszimmer, abgebildet in einer Fotografie oder in einer Lithografie. Die entschlüsselbare Symbolik der Selbst- oder Fremddarstellung soll die Bedeutsamkeit des oder der Porträtierten zeigen und verstärken.

Beispielhaft erinnere ich an eine Fotografie von Virchows Arbeitszimmer in der Charité in Berlin: der berühmte Chirurg mit mehr als einem halben Dutzend menschlicher Skelette und zahlreichen Schädeln hinter seinem Arbeitstisch. Oder ich denke an Dürers Kupferstich „Der heilige Hieronymus im Gehäus“ aus dem Jahre 1514 mit dem gutmütigen Löwen und dem schlummernden Hund im Vordergrund. Der Löwe geistert bis heute durch die Literatur. Nicht zu vergessen sind die Holzschnitte des „Büchernarren“ seit dem Mittelalter bis zum „Wol-geschliffenen Narren-Spiegel … hrsg. durch Wahrmund Jocoserius, Nürnberg 1730; in der Nachfolge von Sebastian Brants „Narrenschiff“.

Immer steht im Mittelpunkt der Zeichnung die Person und seine Umgebung; vom heiligen Gelehrten bis zum bibliophilen Narren und zum Pathologen in seinem Panoptikum. Anders verhält sich der Zeichner und Grafiker Matthias Beckmann aus Berlin. Ihn interessiert die Umgebung und das Arbeitszimmer als Ort – der Arbeitsstuhl bleibt leer.

Vermittelt durch ein Stipendium des DA Kunsthauses Gravenhorst im Kreis Steinfurt war Matthias Beckmann in unserer Wohnung in Metelen und hat u.a. mein Arbeitszimmer heimgesucht. Das zeichnerische Ergebnis seiner konzentrierten und auswählenden Beobachtung liegt vor. Ich bin so frech zu behaupten, dass von der Zeichnung auf den Eigner des leeren Arbeitssessels, also mich, rückgeschlossen werden kann und wird. Die einen werden es Chaos nennen, die anderen mögen im Bereich der Kreativität nach einer passenden Bezeichnung suchen. Ich nenne die Bleistift-Zeichenmethode induktiv; sie erlaubt einen Rückschluss vom Arbeitsort auf den dort (nicht) sitzenden Kopfarbeiter.

Zum Schluss meiner Reflexion kann die Praxis der „Heimsuchung“ durch den Künstler Matthias Beckmann aufgeklärt werden: wie bei mir üblich ziehe ich das etymologische Wörterbuch zu Rate: das mittelhochdeutsche Wort heime suochen bedeutet: „in freundlicher oder feindlicher Absicht daheim aufsuchen“ und heimsuochunge meint: “Hausfriedensbruch“. Ich kann die freundliche Absicht bezeugen. Aber eine letzte Frage sei erlaubt: Wie hätte der Löwe reagiert, wenn Matthias Beckmann Hieronymus in seiner Studierstube heimgesucht hätte?