Gedanken zum Fortschritt

Was alles noch fehlt:

Eine Metatheorie des gesellschaftlichen Fortschritts;
Eine Metatheorie des wissenschaftlichen Fortschritts;
Eine Metatheorie des Erkenntnisfortschritts des menschlichen Bewusstseins am Ende des Anthropozän

Was zur Zeit als Renaissance aufscheint: die Kritik der politischen Ökonomie des Karl Marx; die Theorie der Ungleichheit; innerhalb des unvollendeten Projektes der Aufklärung: die Metatheorie des aufgeklärten Realismus

Was immer noch eine sachgemäße Erkenntnis ver- und behindert:

(1) Der Missbrauch der Evolutionstheorie durch naturalistische Weltanschauungen;

(2) Metaphysische bzw. theozentrische Weltbilder, wie sie sich z.B. in Schöpfungsmythen oder in der Vorstellung der zwei/drei Welten ausdrücken;

(3) Konstruktivistische Vorstellungen der Wirklichkeit (Ideologie der Vorläufigkeit)

(1) und (3) können als atheistische Weltanschauung verstanden werden; sie sind vom „methodischen Atheismus“ streng zu unterscheiden.

Zugegeben, es fehlt eine sachgemäße Metatheorie des wissenschaftlichen Fortschritts, um die Geschichte der Menschheit auf dem Planeten Erde im Hinblick auf Erkenntnis und Wissen zu begreifen und zu beschreiben, und zwar auf die Weise, dass der entstandene Wissensbestand dauerhaft abrufbar und weiter verarbeitbar bleibt.

Nun behauptet Julia Merlot (in: spiegel.de/wissenschaft vom 14.01.2023) in Auswertung eines „nature“-Berichtes, dass die heutige Naturwissenschaft an Innovationskraft verliere, „weil alle vergleichsweise leicht zu findenden Entdeckungen mit großem Einfluss bereits gemacht wurden“, und verweist dazu auf die (abnehmende) Wortwahl in wissenschaftlichen Zeitschriften. Diese Messmethode ist zwar in der scientific community gebräuchlich, aber ich halte sie nicht für ausreichend, um qualitativen Fortschritt zu messen. Es fehlt eben eine sachgemäße Theorie, Innovationskraft und Fortschritt zu messen und dennoch zu konstatieren, dass sich die Menge der Innovationen pro Zeiteinheit kontinuierlich verlangsamt. Es bedarf einer sachgemäßen Metatheorie, die Qualität von Problemlösungen und ihren „Fortschritt“ zu begreifen und zu vergleichen. Ich frage mich, ob es ausreicht, den Wert einer wissenschaftlichen Problemlösung (im Prozess von R&D) durch die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu benennen und mit dieser „Benennungsmethode“ quantitativ zu vergleichen.

Für das Universum wird neuerdings mit einiger Begründung spekuliert, dass, wenn alle Materie in den „Schwarzen Löchern verschluckt“ ist, es keine Raum- und Zeitvorstellung im Universum mehr gibt, und dieser Prozess der Rückkehr unumkehrbar ist.

Ich weiß nicht, was diese Situation für das menschliche Bewusstsein bedeutet, aber für die Zeit des Anthropozän auf dem Planeten Erde ist diese Spekulation bedeutungslos, da die Erde zu diesem Zeitpunkt durch ein Schwarzes Loch (in unserer Milchstraße) aufgesogen und damit verschwunden ist.

Ich kann mir vorstellen, dass es irgendwann möglich ist, menschliches Bewusstsein in Form akkumulierter Potenz (als Problemlösungswissen) in das Weltall „auszulagern“ und den Prozess der Vernichtung der Erde und ihrer Bewohner zu „überleben“. Doch auch diese Vision ist unter heutigen Lebensbedingungen illusionär.

Es bleibt die berechtigte Frage, wie sich der wissenschaftliche Fortschritt unter den Bedingungen der Jetztzeit gestaltet und wie er – gesetzmäßig – gemessen und beschrieben werden kann. Noch sind diese Möglichkeiten rudimentär und fehlerhaft und erlauben – meiner Überzeugung nach – keine zuverlässigen Prognosen.

Hinzu kommt, dass der jeweilige Wissensbestand – meiner Einschätzung nach – kein ausreichend prüfbarer Sachverhalt ist. Vielleicht ist es günstiger, von erfolgreichen Problemlösungen in Gesellschaft und Wissenschaft auszugehen. Dabei sind interpretative und experimentelle Methoden zu unterscheiden. Ich erinnere nur an phantastische Erzählungen oder apokalyptische Vorstellungen einerseits und stochastischen Methoden in der Mikrophysik andererseits.

Des weiteren sind das Verhältnis von Forschung und Entwicklung (R&D), von Theorie und Praxis sehr unterschiedlich zu beurteilen, inklusive der finanziellen Absicherung durch Staat und Industrie.

Ich schlage vor, ausgehend von den Resultaten der Problemlösung, eine weltweite Hierarchie ungelöster Probleme zu erstellen und von daher die Länge und Schwierigkeitsgrade der Problemlösungswege (und Umwege) abzuschätzen. Bei diesem Verfahren muss von kurzfristigen, mittelfristigen und langfristigen Interessen ausgegangen werden

Auch ist entscheidend, wie präzise der jeweilige Wissensstand gesichert und verarbeitet werden kann. Ich verweise auf die Leistung der stochastischen Methoden (Wahrscheinlichkeitsberechnung) und die Möglichkeiten automatischer Fehlersuche und Korrektur durch artifizielle Intelligenz (KI).

Diese einzelnen Überlegungen zeigen, wie schwierig es ist, objektive Trendaussagen, sowohl für den wissenschaftlichen Fortschritt als auch die gesellschaftliche Entwicklung, zu ermitteln.

Wenn erfolgreiche Problemlösungen einerseits und die Dringlichkeit, ungelöste Probleme zu klären andererseits den Ausgangspunkt für eine Fortschritts-Analyse bzw. Rückschritts-Erfahrung bilden, dann sind die Interessenlagen im Alltag, in der Gesellschaft, in der Produktion und in der Forschung einzukalkulieren.

Metatheoretische Konstruktionen (Wissenschaftstheorien), wie Forschung und Entwicklung funktionieren, oder Gesellschaftstheorien, die vermeintliche Bewegungsgesetze offenlegen sollen, sind oft Interessen bestimmt und ideologisch durchsetzt. Der Fortschritt beim Lösen der Probleme in der geschichtlichen Entwicklung der Menschheit kann weder metaphysisch oder religiös, noch evolutionär (im Sinne der Naturgeschichte), noch konstruktivistisch (im Sinne der sog. Postmoderne) begriffen und „modelliert“ werden; sondern die Leistungen und Potenzen des menschlichen Bewusstseins haben ihre eigenständigen Gesetzmäßigkeiten. Diese sind in einer kritischen Theorie der Gesellschaft, des Wissenschaftsbetriebs und der geschichtlichen Entwicklung des homo sapiens aufzuklären.

In meinem Weltverständnis bildet die Metatheorie des „Aufgeklärten Realismus“ die Basis für diesen notwendigen Aufklärungsprozess. Dieser Denkprozess ist handlungs-orienriert und beginnt mit der Denkleistung des Immanuel Kant, der im nächsten Jahr 2024 vor 300 Jahren geboren wurde. Vorläufer dieses Prozesses sind für mich Humanisten wie Erasmus von Rotterdam oder Theologen der scientia enigmata wie Nikolaus von Kues.

Hannah Arendt hat in der Jetzt-Zeit und nach der Erfahrung der organisierten Menschenvernichtung die Formel geprägt: Die Menschen sind sterbliche Schöpfer und daraus die Konsequenz gezogen: „Um die Welt gegen die Sterblichkeit ihrer Schöpfer und Bewohner im Sein zu halten, muss sie dauernd neu eingerenkt werden“.

Die Entwicklung der Menschheit, ihre Geschichte, die Geschichte des Fortschritts, lässt sich weder metaphysisch, noch naturalistisch, noch konstruktivistisch erklären und darstellen, sondern Fortschritt ( im Sinne der Geschichte der Menschheit) hat seine eigene Entwicklung: die Leistung des menschlichen Bewusstseins, die Schöpferkraft des Menschen bleibt gebunden an seine Sterblichkeit als Lebewesen. Daraus ergibt sich die andauernde Verantwortung des homo praestans: Die Welt muss dauernd neu eingerenkt werden.

Gegen das Schwarzsehen und gegen die Verfasser von Untergangsszenarien

Wenn ich Zeitungsartikel in der NZZ und anderswo lese, Essays über die Ablösung der Utopie durch „Strategien der Schadensbegrenzung“, ist die Hoffnung auf ein besseres Leben in Ängstlichkeit umgeschlagen. Es entsteht ein gesellschaftlicher Zustand, der nur noch Schadensbegrenzung zulässt, von der die Feuilletonschreiber nicht wissen, ob diese Strategie das Überleben der Menschheit sichert.

Ich plädiere demgegenüber für eine realistische Erkenntnis der gesellschaftlichen Möglichkeiten der Zukunft. Ich unterscheide in meiner Analyse der Gesellschaft zwischen Naturgeschichte und Menschengeschichte. Diese Unterscheidung verlangt, wenn verantwortlich gedacht und gehandelt wird, eine doppelte Form des Naturschutzes; nämlich die Menschen vor den Gefahren der Natur zu schützen und die Natur vor der Zerstörung und Vernichtungswut verantwortungsloser Menschen zu bewahren.

Diese zweifache Verantwortung des homo praestans ist realistisch, notwendig und ergänzt einander. Der verstärkte Deichbau in den Niederlanden der letzten Jahrzehnte, um das Risiko der Landnahme – 80% unter dem Meeresspiegel – zu rechtfertigen und zu minimieren, ist ein sinnvolles Beispiel für Naturschutz und eine verantwortliche Risikominimierung. Nur so wird der Mensch als „sterblicher Schöpfer“ (H. Arendt) seiner Verantwortung gerecht.

Das Projekt der Aufklärung muss zu Ende gedacht und ihre Abbrüche und Verwerfungen müssen überwunden werden, damit der Prozess der Aufklärung weltweit, nachhaltig, risikominimiert und menschenwürdig weitergeführt werden kann.

Unter der Perspektive einer konsequent durchdachten Aufklärung kann der Mensch am Ende des Anthropozän nicht nur „in Würde“ leben, sondern auch Erlösung als existenzielle Zusage erfahren und als Utopie denken.

Diese Perspektive menschenwürdigen und menschenfreundlichen Zusammenlebens gilt sowohl für mündige Christen wie aufgeklärte Atheisten. Ihre Umsetzung als (neuer) kategorische Imperativ ist die Basis für das Konzept einer Anthropologie der Aufklärung.

Geplante Buchveröffentlichung:

Jürgen Schmitter: Nachdenken aus der Peripherie im Anthropozän. Überlegungen zur Anthropologie der Aufklärung, Münster 2022

Ein General soll’s richten – das gefährdet die demokratische Entwicklung unserer Zivilgesellschaft

Aus den Medien erfuhr ich, dass auch die Parteien der zukünftigen Ampelkoalition beabsichtigen, einen General der Bundeswehr zu beauftragen, die logistischen Probleme während der Pandemie zu lösen.

Wie unfähig und vordemokratisch müssen die Institutionen unserer Zivilverwaltung sein, dass die Parteien der bisherigen wie zukünftigen Regierungskoalition auf einen militärischen Befehlshaber der Bundeswehr zurückgreifen müssen, um die logistischen Probleme während der Pandemie in den Griff zu bekommen?

Ich befürchte die Militarisierung der Demokratie: ein General, in militärischer Strategie und Taktik ausgebildet, soll es richten und die Defizite von Legislative und Verwaltung in der Bekämpfung von Notsituationen kompensieren. Wo sind die Menschen in unserer Zivilgesellschaft, die etwas von der Steuerung unserer Gesellschaft im Interesse der Gesundheit und Lebenserhaltung verstehen?

Die unübersehbaren Defizite in Regierung und Verwaltung, Probleme unverzüglich zu erkennen und effizient zu lösen; diesen lebensgefährlichen Mangel löst nicht das Militär, sondern ein wirksam arbeitendes und demokratisch kontrolliertes government.

Ich bestreite nicht, dass es in dieser Weise ausgebildete Generäle gibt, die über logistische Erfahrungen verfügen, aber mich irritiert der (hintergründige) Systemgedanke, dass (nur) eine militärische Kommandostruktur Notstände in unserer Gesellschaft aufheben kann und muss. Dieser Hintergrund ist nicht nur makaber, sondern für die Entwicklung der Demokratie (als eines konsequenten Aufklärungsprojektes) tödlich.

Durch die Wahl eines Bundeswehrgenerals – unabhängig von seinen individuellen Problemlösungsfähigkeiten – wird m.E. die Eigenverantwortung der Bürgerinnen und Bürger missachtet (es geht nicht um Befehl und Gehorsam) und die demokratische Struktur ihrer Selbstverwaltung (auch in Notsituationen) in Frage gestellt.

Nicht nur das Gesundheitswesen und der Lebensschutz (z.B. im Straßenverkehr), sondern auch die Mängelverwaltung der öffentlichen Schulen ist ein gutes Beispiel für die Defizite an demokratischer Digitalisierung (Vernetzung) und pädagogischer Steuerung im Interesse der Ausbildung und Mündigkeit von Kindern und Jugendlichen (Chancengleichheit). Auch die weltweite Entdemokratisierung der menschlichen Gesellschaften erhält durch die „militärische Lösung“ eine fragwürdige Legitimation. Es kann sich zeigen, dass die notwendige „Digitalisierung“ – im Sinne einer effektiven Steuerung und Beschleunigung gesellschaftlicher Prozesse – in eine vordemokratische Herrschaftsstruktur umgemünzt wird.

Dass die militärisch organisierte Bundeswehr (organisiert für den Verteidigungsfall und instrumentalisiert für weltweite Kriegseinsätze) im innerstaatlichen wie internationalen Notfall hilft, ist m.E. notwendig und sinnvoll (von ihren personellen und technischen Möglichkeiten her). Aber dass der „militärisch-industrielle Komplex“ als Problemlösungsstrategie erscheint und benutzt wird, ist für die Entwicklung einer demokratischen Zivilgesellschaft gefährlich.

Zivilgesellschaften erscheinen als hilflos und überholt. Daher kommt es darauf an, die demokratischen und im Interesse der Menschen wirksamen Strukturen zu verbessern und der Demokratisierung (im Sinne von Mitbestimmung und Gemeinwohl) eine Zukunftschance zu geben.

Zum Neuen Jahr und zu Mariä Lichtmess 2020: Erleuchtung bedarf der Aufklärung, sonst zerstreut sich das Licht.

Kritische Überlegungen zur LWL-Aktion „finde dein Licht“ 2020 in der Klosterlandschaft Westfalen-Lippe

Das Licht strahlt nicht nur in der Finsternis, sondern – gezielt eingesetzt – erhellt es die Dunkelheit voller Chaos, Vernichtung und Verbrechen. Die Aufklärung von Versagen, Verbrechen, Vertreibung, Krieg und mutwilliger Vernichtung ist notwendige Voraussetzung der Verantwortung, die wir Menschen für uns, für unsere Mitmenschen, für die Natur, für die Welt haben.

Diese Verantwortung der Menschen als „sterbliche Schöpfer“ (so Hannah Arendt 1958) ist nicht abschiebbar, nicht delegierbar auf eine „höhere Macht“ oder „die Natur“, sondern die Menschen sind eigenverantwortlich für das, was sie tun und ob und wie sie Probleme lösen.

Um die Welt gegen die Sterblichkeit ihrer Schöpfer und Bewohner im Sein zu halten, muss sie dauernd neu eingerenkt werden“, so formuliert Hannah Arendt bereits 1958 in ihrem Aufsatz „Die Krise in der Erziehung“. Nicht von ungefähr, sondern bewusst steht diese Aussage innerhalb ihrer Konzeption aufgeklärten Lernens für das Problemfeld Gesellschaft; ausgehend von der Erziehungskrise der Nachkriegszeit in den USA.

Der Anspruch, verantwortlich für Gesellschaft und Welt zu sein, wäre eine Überforderung, würde sie den Menschen als bloßes Individuum betreffen. Verantwortung kann nur wirksam sein, wenn sie auch gesellschaftlich strukturiert und organisiert ist. Mitbestimmung, Gewaltenteilung, Minderheitenschutz, demokratische Verfassung und Rechtsstaatlichkeit sind keine Zugaben, sondern für das friedliche und gerechte Zusammenleben der Menschen konstitutiv, denn, um Hannah Arendt noch einmal zu zitieren, die Welt muss „dauernd neu eingerenkt werden“.

Hannah Arendt (1906-1975) hat in ihrer publizistischen Tätigkeit immer wieder auf die Notwendigkeit und das Risiko des Denkens und Lernens „ohne Geländer“ hingewiesen. Ich verweise zum Lektüreeinstieg auf die Text- und Briefsammlung „Denken ohne Geländer“, hrsg. v. H. Bohnet und K. Stadler, im Piper-Verlag, München/Zürich 2005.

Des weiteren erinnere ich an Pablo Picassos berühmtes Bild „Guernica“, das 1937 als Reaktion auf die Zerstörung der Stadt Guernica im spanischen Bürgerkrieg durch den Luftangriff der deutschen Legion Condor entstand und heute im Museum in Madrid zu sehen ist. Die Fackelträgerin – in diesem Bild – erhellt die Vernichtung von Mensch und Tier durch faschistische Gewalt.

Ich wünsche mir, dass die Veranstaltungen in den 31 Klöstern und Kirchen der Klosterlandschaft Westfalen-Lippe „finde dein Licht“ zu Beginn des Neuen Jahres 2020 diese – weiterhin weltweit aktuelle – Aufklärung mit bedenken und zur Sprache bringen. Denn die Lichtmetapher ist mehrdeutig: sie zielt nicht nur auf die Erleuchtung nach innen, sondern verlangt Aufklärung in die Gesellschaft und die Welt.

Ich sehe darin eine dauernde Verpflichtung für die Arbeit in meinem Projekt des „Aufgeklärten Realismus“ und verweise auf mein im Februar 2020 erscheinendes Buch: „Aufgeklärter Realismus. Ein Handwörterbuch als Gesprächsgrundlage für Atheisten und Christen inklusive einer skurrilen Aufklärungsgeschichte: Der Papst steht Kopf“. Das Buch erscheint im agenda-Verlag in Münster, umfasst etwa 240 Seiten, und kostet 17,90 EUR.

Habermas diagnostiziert in Bezug auf die Europapolitik die Mönchskrankheit (acedia) und ich wende seine Diagnose auf den Zustand der SPD an.

Man muss schon das Greisenalter erreicht haben – oder sich ihm nähern –, um mit einer der Grundversuchungen des Mönchtums argumentieren zu können, und nicht nur ausreichende Erfahrungen mit dem Mittagsdämon der Schläfrigkeit, sondern auch mittelalterliches Wissen sind notwendig, um mit der Versuchung der (geistlichen) Trägheit auf soziologisch-analytische Weise operieren zu können. Jürgen Habermas kann das in seiner Preisrede zum Deutsch-Französischen Medienpreis, der ihm am 4. Juli 2018 in Berlin verliehen wurde (veröffentlicht in: Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2018 unter der Überschrift: „Unsere große Selbsttäuschung. Ein Plädoyer gegen den Rückzug hinter nationale Grenzen“). Habermas beschreibt und kritisiert das durch „Schwermut“ geprägte Selbstbild der „Deutschen als gute Europäer“ (als Grenze zur Verantwortungslosigkeit) und erwartet und fordert, die „Schwelle zu supranationalen Formen einer politischen Integration“ zu überschreiten. Notwendig seien konkrete Schritte zu einer „politisch handlungsfähigen Euro-Union“, die von den Bürgerinnen und Bürgern in unserem Land verlangt, „auch über nationale Grenzen hinweg gegenseitig die Perspektive der jeweils anderen (zu) übernehmen“.

Ich stimme dieser Analyse und den daraus sich ergebenen Folgerungen für eine aktive Europa-Politik zu und beziehe die Diagnose von Habermas konkret auf den Zustand der SPD. Die „Schläfrigkeit“ der SPD-Funktionäre, ihren (auch durch die Ideologie des Etatismus geprägten) Rückzug „hinter nationale Grenzen“ und ihr zögerliches Verhalten z.B. in der Durchsetzung eines dringend notwendigen Einwanderungsgesetzes kann und will ich (als Mitglied und Funktionär der SPD seit über 50 Jahren) nicht mehr hinnehmen.

Meine Kritik kann ich am Umgang mit einem geplanten Einwanderungsgesetz verdeutlichen: zwar ist dieses Gesetz geplant (bis Ende dieses Jahres) und ist im Koalitionsvertrag vereinbart, aber die SPD verhält sich zögerlich, obwohl dieses Gesetz, das legale Einwanderung ermöglichen soll (und sicher auch regulieren kann), dringend notwendig ist, um auch Flüchtlingen, deren Aufenthalt nach der Genfer Flüchtlingskonvention nur geduldet wird, eine reale Chance der Einwanderung und Eingliederung zu geben. Warum fordert die SPD nicht offensiv und sofort ein solches Gesetz in Ergänzung der Regeln der Genfer Konvention? Selbst wenn Teile der CDU/CSU desinteressiert sind und schon den Begriff „Einwanderung“ ablehnen.

Ich vermute, dass manche SPD-Funktionäre immer noch nationalstaatlichen Vorstellungen anhängen und einer Einwanderungsregelung keine hohe Priorität einräumen, obwohl sogar ein europäisches Einwanderungsgesetz notwendig wäre. Aber die Angst vor europäischen Regelungen, durch die auch nationale Interessen relativiert werden können, ist groß bzw. die Angst, mögliche Wählerinnen und Wähler zu „verprellen“. Ich erwarte eine klare öffentliche Positionsbildung und nicht die diffuse Hoffnung, es allen recht zu machen.

Aber klare Positionsbildung, die gemeinsam und offensiv vertreten wird – gerade in Wahlkämpfen – ist zur Zeit nicht die Stärke der SPD. Dies gilt auch für eine offensive Europapolitik. Ich erinnere an Willy Brandt und seinen Einsatz für ein demokratisches Portugal – innerhalb der sozialistischen Internationale. Letztere ist faktisch tot und eine Politik zugunsten schwächerer EU-Mitglieder wie z.B. Griechenland kaum zu erkennen.

Neben dem uneingestandenen Etatismus (der in der SPD eine lange Tradition hat) gibt es bei den führenden Funktionären die fatale Lust an der Selbstdarstellung. Hier muss die Entstehung von Parteikarrieren kritisch hinterfragt werden. Das unkontrollierte Profilierungsinteresse mancher Funktionäre darf nicht mit der notwendigen Profilbildung der SPD verwechselt oder vermischt werden. Zwar ist in unserer Demokratie Medienpräsenz notwendig, aber sie bedarf kontrollierter Absprachen und Verhaltensweisen – und argumentativer Kompetenz, um nicht dem Populismus zu „fröhnen“; in der irrigen Meinung, bei den Bürgerinnen und Bürgern zu punkten.

Oft wird dieses Verhalten mit den Erwartungen an eine „Volkspartei“ gerechtfertigt. Hier ist meiner Überzeugung nach ein parteiinterner Prozess der Desillusionierung notwendig. Wir sollten uns realistischerweise von der Illusion lösen, wieder eine Volkspartei mit über 30 % Wählerzustimmung werden zu können. Die Veränderungen der sozialen Milieus in unserer Gesellschaft – und das gilt auch für andere Gesellschaften in Europa – geben eine solche Erwartung nicht mehr her. Und hinzu kommt, dass die sog. Stammwählerschaft immer geringer wird und unter 10 % gesunken ist. Das muss Konsequenzen für die Parteiarbeit haben.

In einem im Juni 2018 veröffentlichten Analysepapier („Aus Fehlern lernen“ der Arbeitsgruppe Faus/Knaup/Rüter/Schroth/Stauss, Berlin, 106 Seiten) wird gefordert, dass die SPD wieder Bündnisse und neue Bündnispartner suchen muss; aber konkrete Vorschläge fehlen. Zunächst einmal: Bündnispartner sind immer auch Interessenvertreter gesellschaftlicher Gruppen; das muss bei jeder Kooperation bedacht werden. Aber Tabuisierungen – aus vermeintlicher Angst vor dem Verlust von Wählerstimmen oder aus Unfähigkeit, die eigene Position argumentativ zu vertreten und Vereinbarungen sachgemäß abzuschließen, helfen nicht weiter. Konkret: wann beginnt die SPD-Bundestagsfraktion – sofort und rechtzeitig vor weiteren Wahlen – Kooperationsgespräche mit den Fraktionen „links“ von der CDU/CSU zu führen? Diese notwendigen Kooperationsgespräche setzen natürlich eine sorgfältig begleitende Medienarbeit voraus. Oder schließlich: wo ist der Arbeitskreis in Partei und Fraktion, der Strategien zur Bildung von Minderheitsregierungen in Zukunft – bei ausreichenden Stimmen einer Kanzlermehrheit und bei einem möglichen Stabilitätspakt – diskutiert und prüft? Das Ungetüm eines umfassenden Koalitionsvertrages – den unser Grundgesetz nicht kennt – könnte bald der Vergangenheit angehören, insbesondere wenn manche sich daran weder halten wollen noch können.

Parteienforscher Franz Walter hat in einem SPIEGEL-ONLINE-Text vom 9. Juli 2018 mit dem Titel: „Der Grund für die Misere der Sozialdemokraten“ festgestellt, dass die SPD einmal die „Massenbewegung der kleinen Leute“ war. „Doch seitdem sich die Industriegesellschaft verflüchtigt, hat sie sich in eine Honoratiorenpartei verwandelt.“ Und Walter fragt am Schluss seiner kritischen Analyse: wenn die SPD nicht mehr Partei der Industriearbeiter in der Industriegesellschaft ist, „besitzt sie dann überhaupt noch einen historischen Antrieb, ein soziales Subjekt, die Fähigkeit zur gesellschaftlichen Organisation und Aktion?“ Und er antwortet: „Und, wenn ja: Was sollte das sein? Dies ist endlich zu klären, auch das lehrt die SPD-Historie: Denn Parteien der demokratischen Linken blühen nur so lange, wie sie Ankerplätze von Hoffnungen, von Verlässlichkeiten und Perspektiven sind.“

Ich schlage vor, dass die Parteien der demokratischen Linken, dass die SPD eine aktive Europapolitik betreibt und konkret und öffentlich propagiert. Nur so kann sie die von Habermas konstatierte „Mönchskrankheit“ der Zögerlichkeit und Schläfrigkeit überwinden. Die Angst, von den rechten Populisten als „vaterlandslose Gesellen“ gebrandmarkt zu werden (ein historisches Trauma) ist zwar gegenstandslos, wirkt aber vielleicht als unbewusst lähmend nach. Habermas hat recht, wenn er fordert, die Schwellenangst vor supranationalen Formen einer politischen Integration Europas zu überwinden. Diesen Lernprozess muss die SPD unbedingt und unverzüglich leisten.