Die aktuelle Frage (in Philosophenkreisen), ob es einen „seinsgeschichtlichen Antisemitismus“ gibt – so problematisiert Peter Tawny in seinem Buch „Heidegger und der Mythos der jüdischen Weltverschwörung“ (Frankfurt/Main 2015, 3.A.) –, ist (für mich) schon deswegen sinn-los, weil die Frage nach der Geschichte des Seins sinnlos ist. Das Sein (auch wenn es Seyn geschrieben wird) hat keine Geschichte – im Sinne der Geschichte der Menschen auf dem Planeten Erde. Allein das Dasein des homo sapiens wie der Menschheit lässt sich – biografisch wie gesellschaftlich – als Geschichte rekonstruieren, verstehen und erzählen.
Die Konstruktion der Seinsgeschichte (bei Heidegger) unterstellt eine „Seinsvergessenheit“, deren Erinnerung dem (auserwählten) Philosophen erlaubt, mit Hilfe der Ideologieproduktion des menschlichen Bewusstseins im Labyrinth dieses Bewusstseins zu „stöbern“ und ziellos (sinnlos) zu phantasieren. Unter dieser Perspektive wird „Heimatlosigkeit zum Weltschicksal“ (siehe Heideggers „Humanismusbrief“, Erstfassung 1946) und der Antisemitismus entpuppt sich als wirksame Ideologie mit langer Geschichte realer Machtverhältnisse.
Seinsgeschichte ist ein sinnloser Begriff, denn das Sein dessen, was ist – und auch nicht ist –, hat keine Geschichte; denn menschliche Geschichte (in meinem Verständnis) ist bewusste (auch missverstandene wie verlogene) Konstruktion gesammelter Erkenntnis; auf der Basis überprüfbarer Erinnerung.
Meine Kritik an der Ideologie der Seinsgeschichte etabliert aber kein naives Geschichtsverständnis. Denn zwei weitere Geschichts-Ideologien sind in der heutigen Diskussion wirksam: der Konstruktivismus und der Naturalismus. Die erste Ideologie reduziert die Geschichte der Menschheit (der menschlichen Gesellschaften und des Erkenntnisfortschritts) auf (spätere) subjektive Interessen, die die Wahrheitsfrage ausklammern oder relativieren. Die zweite Ideologie verwechselt den Ablauf (und die Widersprüche) menschlicher Geschichte mit (biologischer) Evolution des Lebens auf der Erde und des Kosmos insgesamt.
Zwar entsteht und entstand menschliches Bewusstsein – individuell wie sozial – aus der gemeinsamen Schnittmenge von Natur (im Sinne der evolutiven Entwicklung des Lebens auf der Erde) und der sozialen Strukturen des Zusammenlebens der Menschen (Bildung von Normen und wiederholbare, erfolgreiche Lösung von Problemen), aber daraus bildete und bildet sich eine eigenständige, spezifisch begreifbare und beschreibbare Struktur des Erkenntnisfortschritts (mit allen Rückschlägen): die Geschichte der Menschheit.
Diese Geschichte der Menschheit – wie auch die biografische Entwicklung des homo sapiens zur Mündigkeit, zur Menschenwürde und zur Empathie – lassen sich in Weltbildern zusammenfassen und in einem weltweiten Projekt der Aufklärung begreifen und beschreiben. Unter der Bedingung des anthropologischen Weltbildes (an Ende des Anthropozän) versuche ich diese Zusammenfassung:
(1) in einer Metatheorie des Aufgeklärten Realismus, die den Atheismus – als Methode, nicht als Weltanschauung – einschließt:
(2) in einer Anthropologie der Aufklärung (aus der Peripherie heraus), die einen dreifachen (kategorischen) Imperativ erdweit einfordert und als Lernprozess organisiert: Mündigkeit, Würde, Empathie.
p.s.
Die „Heimat“ des homo sapiens (als homo praestans) ist einerseits die „Entsterblichung“ seiner Natur (oder die „Entmachtung“ seiner Sterblichkeit), andererseits die „Vermenschlichung“ des Unsterblichen (Gottes).
Der „Holzweg“ ist nicht die Lösung des Problems (der Erlösung), sondern ein Irrweg, der (bestenfalls) als Umweg erkannt werden kann.
Erlösung als Erfahrung – in Form der messianischen Utopie – beginnt mit dem Schweigen, aber endet nicht in der „Heimatlosigkeit“, sondern hat Grund und Ziel: Menschliche Schöpferkraft und Sterblichkeit des Menschen (als eines natürlichen Lebewesens) lösen sich.
Grund ist die menschliche Schöpferkraft. Ziel ist die Entmachtung des Todes.