Aus: Die kosmologische Perspektive, in: Aufgeklärter Realismus, Buchprojekt 2019
Vorbemerkung: Es handelt sich bei der folgenden Kritik um ein vorveröffentlichtes Kapitel meines neuen Buches „Aufgeklärter Realismus. Leitfaden zu einem zeitgemäßen Welt- und Menschenbild als Grundlage für eine dreifache Theorie des menschlichen Wissens, des verantwortlichen Handelns und des utopischen Hoffens“, das im Spätherbst dieses Jahres (2019) erscheinen soll.
2018 erschien – kurz nach seinem Tod – seine Schrift „Stephen Hawking: Brief Answers to the Big Questions“, London (zugleich die deutsche Übersetzung: „Kurze Antworten auf große Fragen“, Stuttgart); aus seinem persönlichen Archiv zusammengestellt und von Kollegen, Freunden und der Familie kommentiert.
Um es vorweg zusammen zu fassen: nach der Lektüre seines Vermächtnisses stelle ich fest: Die Aussagen und Prognosen dieses Naturwissenschaftlers und Kosmologen sind optimistisch, vorausblickend und dem Wissenschaftlichen Determinismus verpflichtet. Daher sind seine Antworten auf die großen Fragen notwendig einseitig.
Diese Perspektive führt dazu, dass die Antwort auf die Frage, ob es einen Gott gibt, – je nach Definition, was mit dem Wort „Gott“ gemeint ist, als sinnlos gekennzeichnet wird. Ich meine, mit Recht, wenn Gott mit Natur und ihren Gesetzmäßigkeiten gleichgesetzt werden, oder alternativ die Antworten als beliebig abgetan werden.
Der Gebrauch des Wortes „Gott“ in Religion und Gesellschaft wird nicht ideologiekritisch analysiert; das ist mit den Methoden des naturwissenschaftlichen Determinismus und seinen an der mathematischen Logik orientierten Sprachspielen auch nicht möglich. Daher spreche ich von notwendig einseitigen Antworten, die ohne die „Gott-Schöpfer-Hypothese“ auskommen – müssen.
Die ideologiekritischen, sozialwissenschaftlichen Konzepte der „Projektion“ werden nicht zur Kenntnis genommen und angewandt.
Daher kann Hawking als „methodischer Atheist“ verstanden werden; denn seine Forschungen und Prognosen haben zum Ziel, „ein rationales Bezugssystem zu finden, um das Universum, das uns umgibt, zu verstehen“ (a.a.O. S.50). Demgegenüber hat mein Projekt des „Aufgeklärten Realismus“ zum Ziel, für Wissenschaft und Gesellschaft, also für die Strukturen des menschlichen Denkens – inklusive religiöser Vorstellungen und ihrer sprachlichen Ausdrucksformen – ein rationales Bezugssystem zu finden, um die Gesellschaften, in denen wir Menschen leben und arbeiten, zu verstehen. Das meine ich, wenn ich fordere, das Projekt der Aufklärung unter heutigen Bedingungen zu Ende zu denken – und die Ergebnisse der Ideologiekritik nicht zu negieren oder zu verharmlosen.
Auch Hawkings Position des „wissenschaftlichen Determinismus“ bedarf der kritischen Prüfung. Möglicherweise verkennt er die vorgegebenen „Idealisierungen“ der Naturgesetze – schon bei der Konstruktion adäquater mathematischer Sprachspiele – und reduziert den synsemantischen Ausdruck „Gott“ auf „Natur“, ohne die wirksamen Projektionsformen in Gesellschaft und Wissenschaft wahrzunehmen.
Dennoch bin ich unsicher, Hawking einen Deisten zu nennen. Sein evolutionärer Optimismus, wie auch sein Verständnis von idealisierter Gesetzmäßigkeit kann hinerfragt werden. Der Gebrauch des Wortes „Gott“ wird beliebig (S. 64: „Wenn Sie wollen, können Sie die wissenschaftlichen Gesetze „Gott“ nennen …“), aber meine Frage bleibt, ob es einen sinnvollen Gebrauch dieses Wortes gibt; wenn nicht, sollte auf ihn verzichtet werden.
„Gott“ ist also für Hawking – in meinem Verständnis – ein synsemantischer Ausdruck für die weiter zu erforschende Gesamtheit der Natur in ihrer Gesetzmäßigkeit. Auf die Frage, ob ein Gott das Universum geschaffen hat, antwortet Hawking, dass die Frage sinnlos sei. Die Entstehung und das mögliche Ende unseres Universums läßt sich aus sich erklären. Da die Zeit (im Sinne der Chronologie) wie auch der Raum im „Schwarzen Loch“ verschwinden, wie auch entstehen, ist der Gedanke an die Existenz eines Schöpfers, der das Universum schafft, sinnlos (vgl. S. 62f).
Hawking als Kosmologe ist, wie schon zuvor formuliert, ein methodischer Atheist. Seine Methode ist – in Anlehnung und Fortsetzung der Gedanken Albert Einsteins – das „Gedankenexperiment“ (vgl. a.a.O. S. 224). Die Mathematik versteht er als „Blaupause des gesamten Universums“ (S. 225).
Dabei weiß er um die stochastische Struktur der mathematischen Sprache, wie er anhand der Heisenbergschen Unschärferelation demonstriert. Bei Zukunftsprognosen ist die differenzierte Wahrscheinlichkeitstheorie adäquater Ausdruck der relativen Sicherheit von Voraussagen, Das gilt im übrigen auch und zumeist für Prognosen im sozialwissenschaftlichen Bereich.
Für die zukünftige Entwicklung der Menschheit sieht Hawking zwei Möglichkeiten:
„Erstens die Erkundung des Weltraumes mit dem Ziel, alternative Planeten zu finden, auf denen wir leben können, und zweitens der gezielte Einsatz Künstlicher Intelligenz zur Verbesserung unserer Welt.“ (a.a.O. S. 229) Dieser Optimismus negiert nicht die Möglichkeit der Selbstzerstörung bzw. Selbstvernichtung, aber er „träumt“ von globalen Problemlösungen; z.B. neue Energiequellen wie die Fusionsenergie: „Kernfusion würde zu einer praktischen Energiequelle und uns – ohne Umweltverschmutzung oder globale Erwärmung – mit einem unerschöpflichen Vorrat an Energie versorgen.“ (S. 237)
Für diese Zukunftsprognosen gibt es – bei allem Optimismus – gute Gründe. Schwieriger wird es, das zukünftige Verhältnis bzw. die Art der Symbiose von Künstlicher Intelligenz und menschlichem Organismus zu klären. (Im Wörterbuch meines Buchprojektes werde ich zum Verhältnis von KI und menschlichem Organismus Stellung nehmen.)
Ungeklärt bleibt bei Hawking das Verhältnis von „Gedankenexperiment“ und der „Problemlösungsstruktur“ konkreter Menschen. Wie müssen wir uns den Menschen bzw. das menschliche Team vorstellen, die sich (in einem Gedankenexperiment) mit Lichtgeschwindigkeit (auf einem Lichtstrahl) durch das Universum bewegen oder in einem „Schwarzen Loch“ verschwinden bzw. wieder auftauchen?
Der Mensch wird in diesen Gedankenexperimenten nur als fiktiver Punkt, als mathematische Größe ohne Ausdehnung verstanden – der Mensch als fiktiver Punkt auf seiner (!?) Reise durch das Universum. Der Mensch, die Menschengruppe, zu einem bestimmten Zeitpunkt degenerieren zu einer mathematischen Konstruktionsgröße. Menschen aber sind sterbliche, komplexe Organismen (in komplizierten, historisch veränderten Organisationsformen), die, wenn auch individuell begrenzt und historisch verändert, zu Organisationsformen, zu nachdenkender Reflexion und Dokumentation ihrer jeweiligen Ergebnisse fähig sind.
In Analogie zur „Unschärferelation“ in der Mikrophysik gefragt: Was bleibt, wenn eine präzise Trennung zwischen Beobachter (als menschlicher Organismus/als menschliche Organisation) und prognostiziertem Prozessablauf nicht möglich ist? Welche „Objektivität“ haben die vermuteten Gesetzmäßigkeiten? Wie beeinflussen/verändern die jeweiligen Zustände den (beobachtenden) menschlichen Organismus? Oder steckt in allen Zukunftsvorstellungen (Prognosen) ein implizierter, unaufgeklärter Dualismus zwischen Geist und Leib? Der aufgeklärten Realität selbst denkender Organismen, die individuell sterblich sind, und vorläufiger Organisationen werden Gedankenexperimente, wie sie auch Stephen Hawking aufstellt, nicht gerecht. Ich halte an der Aussage von Hannah Arendt fest, dass der Mensch ein „sterblicher Schöpfer“ ist und nur in dieser Struktur – in diesem „Menschenbild“ gemeinsam Probleme lösen kann.