Søren Kierkegaard brachte die Zeitschrift „Augenblick“ (dänisch Ojeblikket) 1855 in Kopenhagen heraus; er war ihr Redakteur und einziger Beitragsschreiber. Neun Nummern erschienen in diesem Jahr 1855; die zehnte erst 26 Jahre nach dem Tode Kierkegaards (im November 1855). 1988 ist diese „Zeitschrift“ DER AUGENBLICK auf Deutsch in Nördlingen erschienen; hrsg. Von H.M. Enzensberger in seiner Reihe „Die andere Bibliothek“.
Ich
wurde durch einen Vortrag in der letzten Woche, in dem ein Bogen von
Hegel und Marx zu Kierkegaard geschlagen wurde, an diesen
exzentrischen dänischen Theologen und Existenzphilosophen erinnert
und hoffte, dass der von mir gebrauchte Begriff „kairos“
(im Gegensatz zu chronos)
bei Kierkegaard eine spezielle Auslegung fände. Zunächst fand ich
die mir bekannte (und im Alter gesteigerte) Polemik Kierkegaards
gegen das verwaltete Christentum und dessen Repräsentanten: die
dänisch-lutherische Staatskirche und ihre Bischöfe und Pfarrer.
Diese ätzende Kritik ist der „rote Faden“ aller Beiträge dieser
fiktiven Zeitschrift.
In
dem Beitrag vom 29. Mai 1855 beantwortet Kierkegaard die Frage: Wann
ist der „Augenblick“?
„Denn
der Augenblick ist eben das, was nicht in den Umständen liegt, das
Neue, der Einschlag
der Ewigkeit (Hervorhebung
von mir) – aber im selben Nu beherrscht es die Umstände in dem
Grade, dass es trügerischerweise (darauf berechnet, weltliche
Klugheit und Mittelmäßigkeit zum Narren zu halten) so aussieht, als
ginge der Augenblick aus den Umständen hervor.“
Im
weiteren nennt Kierkegaard den Augenblick das „Geschenk des
Himmels“ und schließt seine Antwort mit der für ihn typischen
überspitzten Aussage:
„Weltliche
Klugheit ist ewig ausgeschlossen, im Himmel mehr verachtet und
verabscheut als alle Laster und Verbrechen, wie sie ist; denn sie
gehört ihrem Wesen nach von allem am meisten dieser elenden Welt an
und ist am meisten von allen davon entfernt, mit dem Himmel und dem
Ewigen zu tun zu haben.“ (a.a.O. S. 254)
Hier
wird das „Lob der Torheit“ in der Kierkegaardschen Fassung
besungen; anders als bei Erasmus von Rotterdam,
obwohl sich beide auch auf Paulus aus Tarsus beziehen. Kierkegaard
verweist in seinen Beiträgen zum „Augenblick“ auf die Tradition:
er beginnt mit seinem „Kronzeugen“ Sokrates (ich weiß, dass ich
nichts weiß) und kulminiert in der Demontage der Klugheit jüdischer
Schriftgelehrter durch Jesus aus Nazaret.
Ich
ergänze die Tradition dieser Denkschule und ihrer Lebenspraxis mit
Hinweis auf Diogenes und die Kyniker aus
hellenistisch-jüdisch-römischer Zeit. Heutzutage formuliert
Bernhard Lang (2015):
„Wir
können Jesus als eine Diogenesgestalt sehen. Er verdient einen Platz
unter den Philosophen der antiken Welt“. (S. 46, B. Lang: Jesus,
der Philosoph, Gütersloh 2015; vgl. Bernhard Lang: Jesus, der Hund.
Leben und Lehre eines jüdischen Kynikers, München 2010) Und auch
die Vision und Botschaft des Paulus aus Tarsus in Kleinasien – in
seiner Kenntnis und Auseinandersetzung mit der Stoa und den Kynikern
seiner Zeit gehören in diesen Kontext.
Ich
kehre zu der Auffassung von Kierkegaard zurück, Ewigkeit
(oder Erlösung)
nicht als chronologischen Wende- oder Endpunkt zu deuten, oder –
aus der jüdisch-christlich-apokalyptischer Tradition heraus – als
Wiederkunft Christi am Ende der Zeit chronologisch misszuverstehen.
Kierkegaard spricht vom „Einschlag der Ewigkeit“, der nicht aus
den „Umständen“ der Geschichte erklärt werden kann, sondern ein
Ereignis
sui generis
ist.
Aber
anders als Kierkegaard ziehe ich aus diesem Ereignis eine
entgegengesetzte Konsequenz: dieser „Einschlag“ bedeutet nicht
Abschied oder Trennung von der „elenden Welt“, sondern metanoia,
Metamorphose. Entweltlichung ist keine Weltflucht, sondern im Sinne
Jesu und seines Botschafters Paulus Befreiung – im Sinne der
Nachfolge Jesu, unkonventionell, als radikale Menschenliebe. Ich
erkenne im Neuen Testament, in der Botschaft wie im Verhalten Jesu,
als auch in Theorie und Praxis seines Botschafters Paulus keine
dualistische Tendenz (wie z.B. in Teilen der Gnosis oder des
Manichäismus).
Menschen,
die das Ereignis vom Einschlag
der Ewigkeit
erfahren und bekennen, sind befreit, passen sich dem herrschenden Äon
dieser Welt nicht an, sondern schaffen eine neue Welt in der
bestehenden. Paulus nennt dieses Verhalten in Theorie und Praxis im
Römerbrief einen vernünftigen
Gottesdienst
(latreia logiké): „Fügt euch nicht ins Schema dieser Welt,
sondern verwandelt euch durch die Erneuerung eures Sinnes, dass ihr
zu prüfen vermögt, was der Wille Gottes ist: das Gute und
Wohlgefällige und Vollkommene.“ (Röm 12,2)
Kierkegaard
ist meiner Überzeugung nach in der Gefahr, dieses Ereignis – ich
spreche in anderem Zusammenhang von konkreter
Utopie
– gnostisch/manichäistisch misszuverstehen. Daher führt seine
Position der Entweltlichung in den Rückzug aus der (bösen) Welt und
zur Verdammung der Institutionen – nicht zu ihrer Reform.