Vom Bewusstsein und der Überzeugung aufgeklärter Menschen am Ende des Anthropozän

Auf einem Kalenderblatt des Monats September fand ich den Spruch: „Gläubige brauchen keine Erklärung, Ungläubigen hilft keine Erklärung“. Diese Aussage, vom Kalender als „Sprichwort“ gekennzeichnet, ist doppelt unsinnig.

Ohne die Möglichkeit und Notwendigkeit zu erklären, werden aus Gläubigen Abergläubige, Wundergläubige oder Spinner; und aus Ungläubigen werden Ideologen, Weltanschauungsatheisten oder Kritiker aus Prinzip.

Wer überzeugt ist, zweifelt aus Einsicht, ohne zu verzweifeln. Überzeugend ist nur der, der seine Überzeugung erklären kann, auch wenn im Einzelfall seine Argumentation sprachlicher Oxymora bedarf.

Der alltägliche Gebrauch des deutschen Wortes „glauben“ ist mehrdeutig und mehr als missverständlich. Die Differenz von credere und putare im Lateinischen geht verloren oder der Gebrauch wird missbraucht.

Daher sind mir alltägliche wie verfremdete religiöse Sprachspiele höchst verdächtig, sofern sie nichts (er-)klären, sondern nur behaupten. Sie sind sinn-los. Nur wer argumentiert, kann überzeugen.

Daher weisen aufgeklärte Menschen, Christen, Muslime wie Atheisten, die Anfrage: Was glaubst Du? zurück und entgegnen mit der Rückfrage, was mit dem Wort „glauben“ gemeint sei: unerklärtes, ungeklärtes, unerklärbares „meinen“ oder eine argumentativ begründete Überzeugung, die den Zweifel einschließt.

Überzeugungen werden im Gespräch verstehbar: sie entsprechen dem „beredten Schweigen“ (Oxymoron), sie klären auf, indem sie zwischen chronologischen Vorstellungen und kairologischen Erfahrungen unterscheiden.

Wer die Kunst der Unterscheidung leugnet, bleibt im Labyrinth des Aberglaubens und der Magie gefangen. Wer zu unterscheiden weiss, wer zu argumentieren vermag, der weiss um die Dynamik des Vorläufigen – beim Wahrnehmen wie Erkennen.

Die Potenz des menschlichen Bewusstseins, (alltägliche wie wissenschaftliche) Probleme zu lösen, ist vorläufig (provisorisch) wie vorausschauend (antizipativ) zugleich.

Ich differenziere zwischen drei Möglichkeiten (Potenzen) des Bewusstseins zu denken: das begreifende Denken, das poetische Denken (auch erzählendes Denken) und das utopische Denken.

Dem entsprechen drei verschiedene Sprachspiele: das logische Sprachspiel (auch mathematisches Sprachspiel), die erzählende Sprache (Poesie) und das utopische Sprachspiel (kairologische Erfahrungen jenseits von Raum, Zeit und Vergänglichkeit – im Gegensatz zu chronologischer Wahrnehmung bzw. Erkenntnis).

Wahrnehmen und Erkennen des homo sapiens am Ende des Anthropozän

sind aenigmatisch strukturiert („videmus nunc per speculum in aenigmate“, Ad Cor.I, 13, Paulus aus Tarsus, jüdischer Schriftgelehrte und griechisch sprechender antiker christlicher Philosoph).

 

Dr. Jürgen Schmitter M.A. Metelen, am 21. November 2023

Was ist der menschliche Geist (mind)? – Was ist Aufklärung (enlightenment)?

Was ist der menschliche Geist (mind)?

Was ist Aufklärung (enlightenment)?

Auf diese Fragen antworte ich zum argumentativen Gebrauch als Philosoph: Gemeint ist die Fähigkeit des homo sapiens, durch sein Bewusstsein zu denken und sich zu denken (Entwicklung des Selbstbewusstseins).

Am Anfang der Bewusstseinsbildung des homo sapiens steht die Gesprächsfähigkeit, die Kommunikation. Die Möglichkeit des Gespräches schafft Verständigung. Die Verständigung in der Menschengruppe und die Entwicklung des individuellen Bewusstseins sind seit Beginn des Lernens des einzelnen Lebewesens, also seit seiner Entstehung, in einer dauernden Wechselwirkung.

Die Möglichkeiten und Leistungen des Bewusstseins bezüglich seiner Inhalte lassen sich als gemeinsame Schnittmenge von Natur und Norm (der Kulturbildung) beschreiben. Die Fähigkeit zu denken ist von Anfang an ein Prozess des Verstehens und der Verständigung. Daher entwickelt sich die Bildung des Bewusstseins in der Form des Gespräches; sei es zwischen Mutter und Kind (schon vor der Geburt) oder in der Wahrnehmung der Umwelt.

Das Bewusstsein des Menschen hat drei zu unterscheidende Denkmöglichkeiten; diese drei Möglichkeiten (Potenzen) sind (zunächst) an der Entwicklung der menschlichen Sprache abzulesen:

  1. Sprachspiele, die logisch aufgebaut und rekonstruierbar sind; Grundlage ist das begreifende Denken.
  2. Sprachspiele, die erzählend/poetisch aufgebaut sind und zwischenmenschliche Erfahrungen zum Ausdruck bringen; ich spreche vom poetischen Denken.
  3. Sprachspiele religiöser Art, die ein theozentrisches Weltbild zur Voraussetzung haben und – gemäß des Projektes der Aufklärung – der Übersetzung auf der Grundlage heutiger anthropozentrischer Weltdeutung bedürfen, um ihre (existenzielle) Bedeutung in aenigmatischer Form zu erkennen.

Entweder sind religiöse Aussagen (auf theozentrischer Basis) Projektionen und/oder steckt in ihnen eine (verborgene) Botschaft in Form einer Utopie. Ich spreche in diesem Fall vom utopischen Denken.

Religiöse Sprachspiele bedürfen der Übersetzung, da sie mehrdeutig oder sinn-los sind. Sinnlos ist ein Sprachspiel, wenn es nicht kommunikativ ist.

Das Bewusstsein projiziert seine Raumerfahrung in eine Mehrzahl von Räumen (z.B. Erde, Himmel, Unterwelt). Es projiziert seine Zeiterfahrung (im chronologischen Sinn) in ein verursachtes oder erwartetes Ende (im Sinne der Apokalypse).

Demgegenüber verweist das utopische Denken – und die entsprechenden Sprachspiele – auf menschliche Erfahrung ausserhalb von Zeit und Raum, aber innerhalb der Denkmöglichkeiten des menschlichen Bewusstseins. Ich spreche daher von kairologischer statt chronologischer Erfahrung. Wenn von „Augenblick“ oder „Ewigkeit“ gesprochen wird, wenn Oxymora benutzt werden (wie z.B „Menschwerdung Gottes“), kann die Utopie der Erlösung gemeint sein. Da die Menschen sterblich sind, kann  „Erlösung“ nur in utopischer Weise gedacht und gesprochen werden (jenseits von Raum und Zeit).

Wie können die Potenzen des sterblichen Bewusstseins einheitlich – ohne Hilfe metaphysischer Konstruktionen – zusammengefasst werden?

Die einheitliche Aktivität des Bewusstseins – bei unterschiedlichen Denkmöglichkeiten – besteht darin, Probleme zu lösen (erfolgreich und wiederholbar). Diese Lösungen sind vorläufig (im doppelten Sinn: provisorisch und antizipativ), da die Schöpferkraft des homo sapiens begrenzt, sterblich ist.

Daher spricht Hannah Arendt davon, dass die Menschen sterbliche Schöpfer sind (1958/2000) (– und keine Geschöpfe).

Erlösung ist die Hoffnung allen Problemlösens; diese Konsequenz kann als (konkrete) Utopie gedacht und bekannt werden (im Sinne von bekennen).

 

p.s.

Problemlösungen (im weiten Sinn) können erinnert, gesammelt und „ausgelagert“ werden (Schrift,Papyrus, Buch, Bibliothek, Internet – AI); das ändert nichts an ihrer Vorläufigkeit und der Verantwortung (der homo sapiens als homo praestans).

Die jüdisch/christliche Bibel  kennt zwei grundlegende Erzählungen: die messianische Perspektive der Erwartung der Erlösung (in der konkreten Utopie des Erlösers/Messias) und die rückblickende Schöpfungsperspektive (Schöpfungsmythen/Paradiesvorstellungen). Für die jüdische Täuferbewegung in der Konsequenz der Prophetenreden ist das messianische Denken (die Erwartung des Messias) primär; der Rückblick auf die Schöpfung der Welt und die Erschaffung des Menschen sind sekundär.

Der Rückblick auf den Anfang setzt ein theozentrisches Weltverständnis voraus; Gott als Schöpfer, der Mensch als Geschöpf. Dieses Verständnis drückt sich in religiösen Sprachspielen aus (religo = Rückbezug).

Die Messias-Erzählungen sind zukunftsorientiert (Utopie der Erlösung; konkret: Messias-Utopie). Das messianische Denken kann daher auch in das anthropozentrische Weltbild integriert und übersetzt werden. In diesem Weltverständnis wird „Gott“ zu einer aufzuhebenden „Arbeitshypothese“ (so Dietrich Bonhoeffer); dennoch kann Erlösung (als Utopie) gedacht werden.

Diese Überlegung erlaubt mir einerseits beim Lösen von Problemen einen „methodischen Atheismus“ zu unterstellen, andererseits „Erlösung“ als konkrete Utopie zu denken und zu bekennen. Daher folgere ich: ein aufgeklärter Mensch (am Ende des Anthropozän) kann ein methodischer Atheist und zugleich ein aufgeklärter Christ sein.

Dieses Resultat ergibt sich auch, wenn ich das Programm der Aufklärung konsequent zu Ende denke und nicht mit Immanuel Kant (Was ist Aufklärung? 1783) beginne, sondern mit Erasmus von Rotterdam und seiner Korrektur des Prologs des Johannes-Evangeliums in der Vulgata-Übersetzung des Hieronymus: logos = sermo, nicht verbum; im Anfang war das Gespräch, nicht das Wort (vor 1518). Übrigens: Martin Luther kannte diesen Übersetzungsvorschlag von Erasmus in einigen seiner lateinischen Varianten, hat ihn aber bei seiner Übersetzung ins Deutsche nicht berücksichtigt.

Ich nenne meine vier Grundaussagen des universalen Programms der Aufklärung:

  1. Im Anfang war das Gespräch, die Kommunikation, nicht das isolierte, dogmatische Wort. (Erasmus von Rotterdam)
  2. Habe den Mut, dich deines Verstandes zu bedienen! (Mündigkeit/Autonomie/Verantwortlichkeit; der homo sapiens als homo praestans) (Immanuel Kant)
  3. Die Menschen sind sterbliche Schöpfer (nicht Geschöpfe); deswegen sind sie für den Erhalt der Welt und die Lebensbedingungen der Menschen verantwortlich. (Hannah Arendt)
  4. Die Menschen können und müssen nicht nur Probleme lösen, sie können Erlösung denken (als Umkehr und Befreiung von Zwang, Kult und Tod – in Form der konkreten Utopie). (Paulus aus Tarsus)