Wie sein Geheimbesuch in Münster in Westfalen das Weltbild der römisch-katholischen Kirche radikal veränderte – Eine skurrile Aufklärungsgeschichte
Vorbemerkung: diese folgende „skurrile Aufklärungsgeschichte“, eine fiktive Glosse mit „biografischen Einsprengseln“, ist eine Vor-Veröffentlichung. Ich plane, sie – statt eines Nachwortes – in meinem neuen Buch „Aufgeklärter Realismus. Leitfaden zu einem zeitgemäßen Welt- und Menschenbild als Grundlage für eine dreifache Theorie des menschlichen Wissens, des verantwortlichen Handelns und des utopischen Hoffens“, das im Spätherbst dieses Jahres (2019) erscheinen soll, zu veröffentlichen.
Im Folgenden schreibe ich auf, wie ich dieses imaginäre Ereignis aufgearbeitet habe. In der obigen Überschrift meines Berichtes wird die Tendenz schon deutlich: Der Papst steht Kopf. Wie sein Geheimbesuch in Münster in Westfalen das (sein?) Weltbild der römisch-katholischen Kirche radikal veränderte.
Es ist kein Zufall, denn den gibt es nicht (casus non datur), und grenzt fast schon an ein Wunder (und daran glaube ich nicht), dass ich in meinem Alter von weit über 70 Jahren – obwohl dieses Alter die Kommunikation mit dem Bischof von Rom erleichterte – die einmalige Gelegenheit hatte, den Bischof von Rom, den ein Teil der Christen als sog. Oberhaupt anerkennt, für einen Tag durch die Stadt Münster zu begleiten und das Wahrgenommene – von mir ausgewählt – zu kommentieren.
Ich nenne das Ergebnis oder die Wirkung meiner eigenwilligen Stadtführung vorweg, um traditionelle Leserinnen und Leser, wenn es die dann gibt, nicht zu sehr zu irritieren: Es gelang, nein, nicht mir, sondern der Macht der reflektierten Wahrnehmung, das Weltbild des Bischofs von Rom, und damit das Menschen- und Weltbild der römisch-katholischen Kirche umzukehren, vom Kopf auf die Füße zu stellen.
Ich phantasiere, der Bischof von Rom, also das von den Mitgliedern der römisch-katholischen Weltkirche (mehr oder weniger) anerkannte Oberhaupt, wäre zu einem unvermuteten Kurzbesuch inkognito in Münster eingetroffen und ich hätte die Aufgabe, ihm als ein sachkundiger Stadtführer und aufgeklärter Christ innerhalb eines Tages drei Dokumente aus der Geschichte und Gegenwart dieser Stadt zu zeigen und zu erläutern; einer ehemals fürstbischöflichen Stadt der Friedensverhandlungen zu Ende des Dreißigjährigen Krieges mit weitreichenden Konsequenzen; einer Stadt mit (ehemals) katholischem Milieu, die nie reformiert und aufgeklärt wurde.
Ich würde mit dem Bischof von Rom die Astronomische Uhr im Paulusdom besuchen, die Besonderheiten des Lambertikirchturms erklären – inklusive zweier Abstecher in den Friedenssaal des Rathauses und in das Stadtmuseum am Ende der Salzstraße –, und abschließend in der (ehemaligen) Dominikanerkirche verweilen, um anhand des Foucaultschen Pendels in der künstlerischen Fassung von Gerhard Richter die heutige Menschen- und Weltsicht erklären.
Mein Ziel, meine Intention des folgenden Berichtes mit Reflexion ist also, das Menschen- und Weltbild des Papsttums der römisch-katholischen Kirche vom Kopf auf die Füße zu stellen. Vor der Niederschrift meines Berichtes kann ich noch einige Marginalien klären, die meinem Bericht eine ausreichende Plausibilität verleihen.
Wir waren am Morgen vor der Bischöflichen Residenz auf dem Domplatz verabredet. Er hatte darum gebeten, von keiner örtlichen Geistlichkeit oder lokaler wie nationaler Politikprominenz begleitet zu werden. Auch ich war gebeten worden, alleine zu erscheinen; vor allem die Medien nicht zu informieren. So stand der Bischof von Rom im schwarzen Anzug ohne römischen Kragen im Vorhof des bischöflichen Palais, begleitet von seiner Sekretärin (ohne Ordenskleid) und seinem Sekretär in ziviler Kleidung (vielleicht ein Sicherheitsbeamter der päpstlichen Garde).
Bei einem Vorgespräch mit seiner Sekretärin im Campo Santo Teutonico im Vatikan – dazu war ich überraschenderweise eingeladen worden – hatten wir ein Erkennungszeichen vereinbart: seine Anzugsjacke zierte ein kleines Petruskreuz; das hatte ich nicht ohne Hintergedanken vorgeschlagen, obwohl bei seiner Medienpräsenz nicht notwendig; stattdessen Sonnenbrille und ein weitkrampiger Stohhut. Auch ich war in schwarz; nichts besonderes, sondern bei mir oft üblich. Auf dem Revers meiner Jacke klebte ein kleines Fischsymbol (mit den griechischen Großbuchstaben: ICHTYS).
Durch welche Indiskretion oder welches Missverständnis ich zu dieser ungewöhnlichen Stadtführung eingeladen wurde, weiß ich nicht. Manche werden das Verb „einladen“ durch „auserwählen“ ersetzen wollen und ihren Neid kaum verbergen können. Ich war zutiefst überrascht. Die Ordensschwester und Sekretärin, die ich auf meinen Wunsch hin im Campo Santo Teutonico im Vatikan traf, verriet nur soviel: man wisse, dass mein Studium in Freiburg im Breisgau durch die Stiftung der deutschen Bischöfe gefördert worden sei (meine Doktorarbeit wurde dann durch ein Stipendium des Landes NRW unterstützt) und ich vor kurzem ein Buch über das Verhältnis von Christen und Atheisten veröffentlicht hätte. Auch sei ich meinem Taufgelöbnis (das meine Großeltern für mich abgegeben haben) trotz aller Distanzierung treu geblieben und hätte bis zum Rentenalter katholischen Religionsunterricht erteilt. Und da ich mich mit der Täuferbewegung in Münster intensiv und öffentlich beschäftigt habe, würde ich nun gebeten, den Papst in einer geheimen Mission zu unterstützen. Der Papst zähle auf meine Verschwiegenheit.
Demgegenüber verwies ich auf meine langjährige Distanzierung zur Praxis der Kirche, die mit gutem Grund als Kriminalgeschichte zu deuten sei. Daher hätte ich auch den Deutschen Friedhof im Vatikan als Treffpunkt ausgewählt, denn vor längerer Zeit sei der Leiter, ein deutscher Prälat, der zuvor Leiter des Cusanuswerkes war, wegen dunkler Geschäfte „aus dem (öffentlichen) Verkehr“ gezogen worden. Sie entgegnete, immerhin hätte ich unter seiner Leitung drei Wochen lang hier in Rom eine Akademie besucht. Ich schwieg und wunderte mich nicht über die exakten biografischen Vorermittlungen, sondern gab meine Zustimmung.
Aber einen Wunsch meinerseits bat ich weiterzuleiten: auch weil es sich um einen geheimen Besuch handele, würde ich den Papst mit „Herr Bischof“ anreden. Denn so wie es mit Recht keine Fürstbischöfe mehr gebe, dürfe es auch keinen Papst-Titel mehr geben. Leider habe sich die Säkularisierung weltweit und vor allem im Vatikan noch nicht durchgesetzt.
Ich sah ihr Stirnrunzeln, aber sie versprach, meinen Wunsch weiterzuleiten. Zuvor hatte ich sie damit zu trösten versucht, dass ich ihr davon erzählte, dass ich 1963 in der Universität Münster die Vorlesung von Josef Ratzinger „Einführung ins Christentum“ mit Interesse besucht hätte. Eine Reaktion blieb aus.
Das Weltbild der Astronomischen Uhr im Dom zu Münster: Die zerbrechende Einheit von Astrologie und Astronomie – Zum Verhältnis von Chronos und Kairos
Leicht verunsichert, ob nicht doch die Presse uns umzingeln würde, gingen wir auf den Dom zu und erreichten durch das Paradies, die Vorhalle, den südlichen Chorumgang und blickten auf die dreiteilige Schauwand der Astronomischen Uhr.
Die nach der Zerstörung durch die Täuferbewegung 1540 wiederhergestellte Uhr unterstellt einerseits das theozentrische Weltbild mit christologischer Perspektive, erlaubt andererseits eine chronologisch exakte Zeitbestimmung auf der Erde wie den Lauf der Planeten. Diese Konstellationen konnten also den Stand der Planeten am Himmel während eines bestimmten Zeitpunktes fixieren und – im Sinne der Astrologie – bewerten. Astronomie und Astrologie bildeten eine auch von der Kirche akzeptierte , wenn auch zunehmend zerbrechende Einheit. Der Stand der Gestirne am Himmel erlaubte eine auch prognostische Bewertung der irdischen Abläufe. Wobei der Ablauf der Geschichte auf der Erde durch den Kreislauf der Jahreszeiten geprägt war – und nur einmal im Jahr – in der Silvesternacht – musste der Jahreszeiger von Menschenhand bewegt werden. Die Messbarkeit und Wiederkehr der Himmelsmechanik schien die Stabilität der chronologisch ablaufenden Geschichte auf der Erde zu sichern. Noch korrelierten Kosmologie und menschliche Herrschaft miteinander und die christliche Kirche war der Garant dieser Stabilität Reform und Revolution waren in diesem Weltbild nicht (oder nur insgeheim) denk- und realisierbar; Reformation, Umsturz und Aufklärung blieben „außen vor“.
Meine Gäste stehen staunend vor diesem Kunstwerk und seiner bis heute ablaufenden Mechanik; aber ich gebe zu bedenken, schon wenige Jahre vor dieser Neukonstruktion stellten die Täufer diesen Ablauf radikal in Frage; wenn auch in Form einer chronologisch vorgestellten endzeitlichen Apokalyptik. Und die Reformatoren hinterfragten die Stabilität dieser Konstruktion und die Berechtigung der christlichen Kirchen, diese Konstruktion zu legitimieren.
Wer den Dombezirk verlässt und sich dem bürgerlichen Stadtbezirk mit seinem Prinzipalmarkt nähert, kann die spätgotische Lambertikirche mit ihrem heutigen Turm (vom Ende des 19.Jahrhunderts) nicht übersehen.
Stigmata am heutigen Lambertikirchturm: Schiller, Goethe und die Käfige der hingerichteten Täufer. Der spezifische Umgang mit der missachteten Aufklärung: zwischen Possenspiel (Stadtmuseum am Ende der Salzstraße, Säulenkapitelle an der Rathausfassade) und Friedenskompromiss (Friedenssaal des Rathauses)
Ich erläutere, dass Ende des 19. Jahrhunderts der baufällig gewordene Kirchturm abgerissen wurde, und ein neuer Turm entstand, gegen den Wunsch der preußischen Obrigkeit ein Imitat des Freiburger Münsters. Vor allem die drei abgelassenen Eisenkäfige, in denen die Körperteile der hingerichteten Anführer des Täuferreiches den Vögeln zum Fraß ausgesetzt und den Bürgerinnen und Bürgern zur Abschreckung und Warnung ausgestellt worden waren, wurden wieder – allen sichtbar – hochgezogen. Daran änderte auch das Possenspiel nicht, das Professor Landois, exkommunizierter Priester und Darwinist, Gründer des Münsteraner Zoos und später zu einem Münsteraner Original stilisierter Zoologe, veranstaltet hatte. Er ließ drei weitere Eisenkäfige nachbauen und behauptete, diese seien die echten. Heute sind diese Resultate der Possenspielerei im Stadtmuseum am Ende der Salzstraße zu bestaunen. Dieser verharmlosende, touristenattraktive Umgang mit der Geschichte hat in Münster, der katholischen Metropole des Münsterlandes Tradition; daran ändern auch die in den Käfigen angebrachten, der Kunst verpflichteten „Irrlichter“ nicht. Und das regelmäßige Trompetensignal der (städtisch angestellten) Trompeterin mochte vor Feuersbrunst in früheren Zeiten schützen, aber den Schlaf der Münsteraner Bürgerinnen und Bürger stört es bis heute nicht.
Mehr oder weniger versteckte Elemente der Possenspielereien konnte ich meinen Gästen zeigen: zwei der in Stein gemeißelten Heiligenfiguren im Westportal erinnern in ihren Gesichtern an Schiller und Goethe, ein Säulenkapitell am nach dem Krieg wiederhergestellten Renaissance-Rathaus zieren Köpfe der auf dem Prinzipalmarkt hingerichteten Täuferführer, und im Stadtmuseum ist neuestens, in kleine Flaschen verpackt, Taufwasser der Täufer zu kaufen: hochprozentiger klarer Schnaps.
Die Verwunderung meines Inkognito-Gastes nahm zu und er murmelte etwas von italienischen Verhältnissen, die er im Münsterland nicht vermutet habe. Aber meine voreilige Interpretation des spezifischen Umgangs mit der gefürchteten Obrigkeit und der missachteten Aufklärung beeindrucke nicht weiter. Während wir nach einem Umweg in den Friedenssaal zu Ende des Dreißigjährigen Krieges Richtung ehemaliger Dominikanerkirche gingen, erzählte ich von den vergeblichen Einsprüchen der päpstlichen Delegation, dessen Leiter später Bischof von Rom (und damit Papst) wurde: Die Niederlande erhielten ihre garantierte Unabhängigkeit und das Recht der freien Religionsausübung. Und eine einmalige „Absonderlichkeit“ des Friedensvertrages, die Nachbardiözese Osnabrück betreffend, musste ich erwähnen: die dortigen Fürstbischöfe waren – bis zum Ende des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation, also bis 1803, abwechselnd katholisch oder evangelisch.
Wie der römische Papst in der Dominikanerkirche die Erdrotation erfuhr, die leibliche Himmelfahrt als symbolische Täuschung erkannte und als aufgeklärter Bischof in seine römische Diözese zurückkehrte.
Höhepunkt und Abschluss meiner außergewöhnlichen Stadtführung war der Aufenthalt in der Dominikanerkirche mit der durch Gerhard Richter künstlerisch gestalteten Installation des Foucaultschen Pendels. Ich war überrascht, dass er, der vor Jahren auch in Deutschland studiert hatte, die Wirkung dieses Pendels (aus dem Deutschen Museum in München) kannte, und mir, nachdem ich die unterschiedlichen Weltbildvorstellungen zwischen dem barocken Hochaltarbild der leiblichen Aufnahme Mariens in den Himmel aus dem Jahre 1708 (das hinter einer eisernen Gittertür zu sehen ist), und der nur indirekt erfahrbaren Erdrotation, die uns alle trifft und betrifft, offen zugab, das Weltverständnis, das dem Mariendogma von 1950 zugrunde läge, sei für einen aufgeklärten Menschen nicht mehr versteh- und vermittelbar. Und das habe auch Konsequenzen für ein aufgeklärtes Menschenbild. Seine Sekretärin – die unerkannte Ordensschwester – wollte immer noch nicht glauben, dass sie, auf dem Erdboden stehend, um das gleichschwingende Pendel rotierte. Der Bischof von Rom scherzte noch, dass er nicht 30 Stunden Zeit habe, das Pendel zu umkreisen,
bedankte und verabschiedete sich, und verschwand mit seiner Begleitung im Dienstwagen Richtung Flughafen.
p.s.
Wenn ich mich nicht getäuscht habe, ist in naher Zukunft eine Enzyklika zum Thema Säkularisierung, Aufklärung und Menschenwürde durch den Bischof von Rom zu erwarten.
Übrigens wäre das Petruskreuz am Revers seines Anzugs umdrehbar. Den legendären Petrusakten nach wurde Petrus nach seiner Verhaftung kopfüber gekreuzigt. Er habe seinen Wunsch damit begründet, dass er nicht würdig sei, auf die gleiche Weise wie Christus zu sterben.